Tuya bietet mir an, wenn ich mehr Zeit habe, könnte ich bei ihren Großeltern leben und mit arbeiten. Sie sind ihr Leben lang schon Nomaden, haben viele Tiere und leben nicht weit vom Ort entfernt. Ich fragte nach dem Preis und buchte bei ihr für sechs Tage Nomadenstay auf mongolisch.
Der Großvater (Schuumei) ist 76, die Großmutter (Szunchaa) 74, sie haben 6 Jungs und 3 Mädchen in ihrem Ger groß gezogen und momentan über 100 Tiere zu versorgen! Ich durfte in ihrem Ger von 1970 wohnen. Sie sind noch im Winterquartier wo ihnen ihre Kinder ein Haus gebaut haben. Nächste Woche ziehen sie ins Sommerlager um. Jeden Tag kommt Besuch vorbei. Die Nachbarn, die Kinder und am Wochenende die Enkel mit Familie, Urenkeln und Freunden zum Helfen auf dem Hof. Wahrscheinlich werden auch die Enkel ihn mal übernehmen. Auch ich bekam jeden Tag Besuch „in meinem Ger“ und war überglücklich genügend eingekauft zu haben, um meine Gäste sobald sie über die Schwelle getreten sind, mit Tee, Kaffee und Süßigkeiten bewirten zu können. Auch sollte man niemals ohne Geschenke eine Nomadenfamilie besuchen. So habe ich den beiden Alten Tee, Süßes und eine Postkarte aus Dresden als Willkommensgruß überreicht.
Ein Ger oder auch Jurte genannt wird immer so aufgestellt, dass die Tür nach Süden zeigt. Aus dieser Richtung nähert man sich ihr auch, damit der Hausherr den Reisenden schon von Weitem sehen kann. Beim Betreten der Jurte sollte man es unbedingt! vermeiden auf die Schwelle zu treten, da die Schutzgeister dadurch aufgeschreckt werden und böse Dämonen das Innere der Jurte erreichen könnten. An der östlichen und der westlichen Seite stehen die beiden Betten. Direkt neben dem Eingang auf der Frauenseite liegt der Küchenteil, gegenüber ist der Platz für Sattel und Zaumzeug. In der Mitte gegenüber der Tür steht ein kleiner Hausaltar, rechts und links davon Truhen, davor steht ein kleiner Tisch und Stühle und in der Mitte der Ofen. Traditionell ist die Sitzordnung streng geregelt. Im Osten – unter dem Schutz der Sonne – sitzen die Frauen und auf der westlichen Seite – unter dem Schutz Tenggers, des Gottes des ewigen Himmels – die Männer. In meiner neuen Unterkunft heize ich den Ofen mit Dung an, schaffe die Asche weg, fülle den Eimer wieder mit getrocknetem Dung auf, fege es täglich durch und gehe sparsam mit jedem Tropfen Wasser um.
Fünf Kälber stehen angebunden auf dem Hof. Sie werden am Tag mit Heu und Wasser versorgt. Die Mütter kommen von selber nach Hause zum Stillen. Kommt die Kuhherde auf den Hof, werden sie mit Getreidemehl und Küchenabfällen zugefüttert. Sind die Mütter fertig mit Stillen, treibe ich sie wieder auf die Weide. Sobald alle Tiere auf der Weide sind, erobern fünf vier Wochen alte Hundebabys den Hof. Ihr ein Jahr alter Bruder passt auf sie auf und spielt mit ihnen. Die Mutter beobachtet alles von ihrem Platz aus. Sie ist angekettet. Der Vater bewacht den Hof und liegt mir ständig zu Füßen, um Kuscheleinheiten einzufordern. Ein riesen großer „Schmusehund“ 😉
Zu den aller schönsten Aufgaben zählt abends die Herausgabe der Ziegenbabys aus dem Kindergarten. Die Mütter kommen auf den Hof, stehen vor dem Tor des Kindergartens an und warten geduldig auf die Herausgabe ihres Babys. Das ist ein Geschrei auf beiden Seiten und eine Wiedersehensfreude die ansteckt. Jede Ziege und das dazu passende Zicklein trägt eine Wiedererkennungsmarke um den Hals, damit auch ja das richtige Baby an die dazu gehörige Mutter verteilt wird. Wenn eins der Zicklein die falsche Mutter ansteuert, verjagt die Ziege das „fremde“ Kind mit ihren Hörnern. Sobald ich ein Zicklein auf dem Arm halte, fängt es auch schon an, an meinem Ohrläppchen zu saugen. Am ersten Abend nehme ich das Zicklein und möchte es zu seiner Mutter bringen. Dabei stolpere ich über die Leine vom Kalb. Das Zicklein entwischt mir, rennt schreiend seiner Mama entgegen und die Großmutter und Hurle (ein Sohn der ein paar Tage seinen Eltern hilft) schütten sich aus vor Lachen. Ein paar Tage später rennen mir manche Mütter hinter her, weil ich sehr nach Ziegenbaby rieche oder die Zicklein rennen mir hinter her, weil meine Sachen nach ihren Müttern vom täglichen Ausbürsten der Kaschmir Ziegen stinken. Mir persönlich gefallen die Kaschmir Ziegen immer besser: Sie sind sehr neugierig und lieb, sie beißen nicht, schlagen nicht mit den Hufen aus, eine gibt mir sogar „Pfötchen“ und streckt mir ihre linke Vorderhufe entgegen 😉 und sie sind lernfähig – man kann sie dressieren. Am Abend wenn die gesamte Herde von Schafen und Ziegen mit ihren Babys auf dem Hof sind und ein paar sich zu weit entfernen, ruft Hurle oder die Großmutter sie wieder zurück. Und ich staune nicht schlecht, dass sie darauf hören und wieder umdrehen. Sie sollen des nachts zusammen auf dem Hof bleiben. Die Hunde halten in der Dunkelheit die Herde zusammen. Am zweiten und vierten Abend kam jeweils ein neues Zicklein zur Welt. Viele der Ziegenbabys haben Schnupfen und verklebte Augen und werden mit Augentropfen versorgt. Manche bekommen einen Löffel Medizin oder werden mit der Flasche gefüttert.
Am Morgen werden sie in den Viehstand getrieben und wir sammeln alle jungen Ziegen und Schafe wieder ein. Dabei stehen die Schafbabys meist von selbst vor der Kindergartenluke. Manche Ziegenmutti steht blökend vor dem Zaun vom Kindergarten. Wenn alle Babys eingesammelt sind, wird die Herde auf die Weide getrieben und wir reinigen den Viehstand vom Mist oder sammeln den Kuhdung vom Hof, der getrocknet und zum Heizen verwendet wird. Gern helfe ich der Großmutter mit, das Futter für die Tiere vorzubereiten oder im Küchenger zu kochen. Hauptnahrungsmittel ist Hammelfleisch. Wobei immer nur alte Tiere geschlachtet werden. Das Fleisch wird getrocknet, um es so haltbar zu machen, denn einen Kühlschrank, geschweige denn Kühltruhe gibt es überhaupt nicht. Sie hatten bis vor kurzem nicht einmal Strom. Erst seit einem Jahr – am neuen Haus – gibt es Sonnenkollektoren und somit Fernsehen und andere Begehrlichkeiten. Das Trockenfleisch wird abends vom Knochen geschabt, zerstanzt und in Wasser eingeweicht. Für die Mahlzeiten werden frischer Weißkohl, Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln und Knoblauch klein geschnitten, in heißem Öl angebraten, mit Wasser aufgefüllt, das Fleisch und vorgekochter Reis oder selbst gemachte Nudeln hinzugegeben. Fertig ist die gehaltvolle Hammelfleisch-Gemüse-Nudel-Suppe. Aber ich helfe ihr auch bei der Zubereitung der traditionellen Buuds und Chuuschuur Teigtaschen. Gekocht wird auf dem Ofen. Dafür wird der Deckel abgenommen und ein großer Wok darauf gestellt. Gearbeitet wird im Knien auf dem Boden.
Am Wochenende wird es voll im Ger und im Haus. Die Enkel mit ihren Familien und Urenkeln sowie deren Freunde kommen zum Helfen aufs Land. Den Kaschmir Ziegen wird jetzt im Frühjahr das feine und weiche Winterfell (Unterfell) heraus gekämmt. Für 1 Kilo Kaschmirwolle gibt es 50.000 MNT auf dem Markt. Ich bilde mit Hurle ein Team und wir kämmen zusammen täglich sieben Kaschmir Ziegen aus. Dafür wird die Ziege an den Hinterläufen und den Hörnern mit Strick angebunden. Mit grobzinkigen Kämmen wird die Unterwolle heraus gekämmt. Die Ziegen schreien wie am Spieß. Es muss ihnen ganz schön weh tun. Es ist ja auch kein Wunder wenn man sich über mehrere Monate nicht gekämmt hat 😉 Auch haben sie oftmals riesen große Zecken im Fell und ich bin sehr erstaunt, solche Parasiten in der Wüste Gobi anzutreffen.
Nach getaner Arbeit wird die Verwandtschaft mit Frischfleisch entlohnt. Es werden zwei alte Hammel geschlachtet. Im Sommer kommen die Enkelkinder über mehrere Monate zum Helfen. Von Juni bis Ende August sind Schulferien in der Mongolei. Dem Großvater seine Aufgabe ist es u.a. mit dem Motorrad aller drei Tage Wasser in Kanistern zu holen, täglich nach dem Vieh zu schauen und die Pferde auf den Hof zu treiben, wo sie mit Mineralien versorgt werden. Am Sonntag Nachmittag laufen Hurle und ich zum nächsten Owoo, umrunden diesen drei Mal und legen Geschenke auf den Haufen, um die Götter gut zu stimmen. Owoo oder auch Obo ist ein tibetischer Steinhaufen, der zu lamaistischen kultischen Zwecken zusammengetragen und mit bunten Tuchstreifen in der Mitte verziert wird.
Die Großmutter hat Arthrose in den Knien von der schweren körperlichen Arbeit, die alle kniend auf dem Fußboden erledigt werden. Ich verwöhne sie täglich mit meiner Creme und Massage und zeige ihr eine Entspannungshaltung im Liegen. Dafür kocht sie mir frische Ziegenmilch mit Rosinen, Honig und Butter zum Trinken. Sie soll meinen Husten und Schnupfen lindern, der mich hier in der Wüste Gobi erwischt hat. Ihr überlasse ich meine Elefantenkette aus Kokosnuss, weil sie ihr so gut gefällt und dem Großvater mein Fernglas, damit er bei seiner täglichen Arbeit alles im Blick hat. Am letzten Tag zeigen sie mir stolz ihre traditionelle Kleidung und lassen sich gerne im mongolischen Mantel dem „Deel“ ablichten. Er wird seit mehreren Jahrhunderten über der Kleidung getragen, besitzt in der Regel keine Taschen und ist meist aus Baumwolle, Filz oder Seide gefertigt. Geknöpft wird der Deel am Kragen auf der rechten Seite und ist mit einer Stoff- oder Lederschärpe, dem Bus, zusammen gewickelt. Am Bus können Werkzeuge und andere Dinge des täglichen Bedarfs befestigt werden. Die Schärpe kann bei Männern bis zu sieben Meter lang sein und wird im Uhrzeigersinn um die Hüfte gewickelt. Frauen tragen eine etwa drei Meter lange Schärpe um die Taille.
Eine wunder schöne, aber körperlich sehr anstrengende Zeit geht zu Ende. Die beiden Alten sind mir richtig ans Herz gewachsen. Sie werden bis ans Lebensende so weiter leben. Für mich wird es Zeit weiter zu ziehen. Bei der Verabschiedung bekomme ich ein Paar Schafwollsocken und ein seidenes Kopftuch sowie viele Süßigkeiten geschenkt.
Irgendwo im Nirgendwo war ich dreckig wie noch nie, aber froh.